Stil und Moral - Essays by Lukas Baerfuss

Autor:Lukas Baerfuss
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Wallstein Verlag
veröffentlicht: 2015-01-02T00:00:00+00:00

Ich habe von allem dem, von Kleist, seiner Dichtung, seiner Zeit in Thun, erst später erfahren, als ich schon längst nicht mehr in meiner Heimatstadt lebte. In der Schule hatte ich nie von ihm gehört. Die einzige Spur zu Kleist war jenes Messingschild an einem Haus jenseits des »Sinnebrügglis«, das auf Marquard Wocher hinwies, der von diesem Dach sein Panorama Thuns gemalt habe, »so, wie Goethe und Kleist sie gesehen«. Aber ich fragte mich nicht, wer die beiden Herren gewesen sein könnten. Ich fragte mich, warum in diesem Satz das Hilfsverb fehlte. Kleist war für mich kein Begriff, und ich habe ihn nicht vermisst. Ich kann mir nicht vorstellen, was ich mit seiner Dichtung hätte anfangen mögen. Man kann über Kleist vieles sagen, aber Kinder- oder Jugendliteratur hat er nicht geschrieben. Seine Stücke bedürfen einer Kontemplation, einer Versenkung in die Sprache, das heißt, man muss stillsitzen, lange, sehr lange stillsitzen, um in den Genuss zu kommen, eine der Kleist’schen Wendungen zu erleben. Ich weiß nicht, ob man eine pädagogische Notwendigkeit finden kann, Jugendliche zu dieser Meditation zu zwingen.

Dazu kommt, dass es für seine Sprache kein Vorbild gibt. Niemand hat man jemals so sprechen hören wie die Figuren Kleists. Seine Sprache lebt von der reinen Künstlichkeit, sie kleidet die größten Brutalitäten in vollendete Formulierungen. Und Grausamkeiten gibt es in seinem Werk im Übermaß, schon in seinem dramatischen Erstling Die Familie Schroffenstein, den er hier in Thun schrieb. Vielleicht wären Jugendliche für zu Tode gefolterte Menschen zu begeistern, für eine Rittergeschichte, in der Kindern die Finger abgeschnitten, Männer vom Pöbel zu Tode geprügelt, Söhne und Töchter von ihren Vätern ermordet werden. Aber was wäre die erzieherische Erkenntnis, die unsere Lehrer aus Kleist hätten ziehen können? Er widersprach allem, was in meiner Jugend an Werten gelehrt wurde, in einer Stadt, die damals fast ausschließlich von der Armee und der Munitionsfabrik geprägt wurde. Eine Kleinstadt, in der jeder seinen Platz hatte, der, solange er sich recht hielt und in Bescheidenheit übte, nicht gefährdet war. Die Arbeiter in der KW und im Labi, den beiden großen Armeebetrieben, hatten ihre Stelle auf Lebenszeit, und ich erinnere mich, wie das »Thuner Tagblatt« die Dienstjubiläen abdruckte. Dass jemand sein vierzigstes oder sogar fünfundvierzigstes Jahr begehen konnte, war keine Seltenheit.

Wäre es nicht gefährlich gewesen, uns, denen unter Qualen beigebracht werden musste, wie man sich zu benehmen hat, welchen Platz wir in der Gesellschaft beanspruchen konnten, von einem zu erzählen, der sich um diesen Platz, um irgendeinen Platz foutierte? Er hatte alles weggeworfen, während unsere Lehrer verzweifelt daran arbeiteten, dass wir überhaupt etwas in die Hände nahmen.

Ich kann nicht für alle in meiner Klasse, für meine Freunde reden, aber was mich betraf, gab es sehr wenig, was ich hätte wegwerfen müssen. Die Dinge fielen von alleine von mir ab. Es schien, als würde plötzlich alles auseinanderbrechen, die alten Kohäsionskräfte, die die Gesellschaft zusammengehalten hatten, wurden schwächer und schwächer, immer mehr Teile lösten sich aus dem Ganzen. Noch wurden wir mit der Angst vor den Russen imprägniert, noch gab es die

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